Lissabon 1755
Am 1. November 1755, vor 270 Jahren, wurde Lissabon durch ein schweres Erdbeben fast von der Landkarte gelöscht. Dieses seismische Erdbeben löste in der europäischen Geisteswelt erhebliche Nachwirkungen aus. Kein Denker, angefangen bei Rousseau, Kant oder Voltaire, sprach nicht über dieses Ereignis und seine Folgen. Im Jahrhundert zuvor hatte Leibniz festgestellt, dass wir dennoch in der besten aller möglichen Welten lebten, und Gott damit vom Problem der Existenz des Bösen freigesprochen. Doch nach der Zerstörung Lissabons erschien Leibniz' These lächerlich, und manche fragten sich ironischerweise, ob Gott sich nicht etwas mehr Mühe hätte geben können.
Es war eine sehr interessante Debatte, die nun vorbei zu sein scheint. Eine Katastrophe wie die von 1755 würde statt eines intellektuellen Umbruchs lediglich Kontroversen über die strukturellen Mängel von Städten oder die Probleme bei der Koordinierung der verschiedenen Rettungsdienste auslösen. „Gott“ ist im öffentlichen Diskurs ein verpöntes Wort, und gerade deshalb wäre es sinnlos, ihn für das Unglück der Welt verantwortlich zu machen. Apokalyptische Geschichten haben heute keinen kosmischen Ursprung, sondern sind das Produkt menschlichen Handelns, sei es in Form von Atomkriegen, globalen Klimakatastrophen oder der Gefahr, von unseren eigenen Maschinen übernommen zu werden.
Für den modernen Menschen erscheint es scheinbar befreiend, Gott zu vergessen. Die vermeintliche göttliche Allmacht, für die man nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann, wird durch das Genie des Menschen und seine Fähigkeit ersetzt, die Natur zu beherrschen und die Zukunft zu lenken. Der biblische Gott wurde durch den Gott des Fortschritts ersetzt, und der Glaube, wir leben in der besten aller möglichen Welten, weil es diese Welt ist, die es uns ermöglicht, unseren Einfallsreichtum zu entwickeln und unsere Zivilisation zu erschaffen. Es ist nicht nur so, dass die Welt verbessert werden kann, sondern dass wir sie verbessern, obwohl wir wissen, dass wir sie auch völlig zerstören könnten. Die Frage ist, ob es eine Katastrophe geben könnte, die auch diesen Glauben erschüttert.
Es ist möglich, dass diese Katastrophe bereits begonnen hat, sich anzubahnen. Bis vor Kurzem schien es, als sei wissenschaftlicher und technischer Fortschritt mit wirtschaftlichem Wohlstand und Demokratie verbunden. Freie Gesellschaften förderten Kreativität, und das führte zu Wohlstand, doch heute ist dies nicht mehr so eindeutig. Die Länder mit den dynamischsten Volkswirtschaften (China, Indien, Südafrika, Brasilien usw.) sind autoritäre Regime oder bestenfalls Demokratien mit schwerwiegenden Mängeln. In den westlichen Demokratien hingegen nehmen nur Unzufriedenheit und Ungleichheit zu, und in bestimmten Kreisen wird die Bewunderung für die technischen oder wirtschaftlichen Wunder dieser Schwellenländer nicht länger verborgen.
Das hat Konsequenzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Menschen angesichts einer wirtschaftlichen oder sozialen Krise eine autoritäre Regierung suchen, die hart und entschlossen vorgeht, ist heute viel größer als noch vor ein oder zwei Generationen. Die Demokratie ist nicht mehr das bestmögliche System, sondern reagiert auf neue Herausforderungen mit mehr Bürokratie und weniger Effizienz. Es entstehen freiheitsfeindliche und tyrannische Szenarien, die sich natürlich nicht plötzlich, sondern schrittweise durchsetzen. Was unmöglich schien, könnte bereits geschehen. Doch anders als in Lissabon ist das Problem des Bösen heute grundsätzlich auf den Menschen zurückzuführen, und wir haben schon lange keinen Gott mehr, dem wir die Schuld geben können.